Die Kunst des klaren Wischiwaschi

Unklarheit im Dialog ist kein Mangel, sondern eine Ressource. Wer im Zwischenraum zwischen richtig und falsch verweilt, hält das Gespräch lebendig, ermöglicht Perspektivenvielfalt und öffnet Türen zu tieferer Erkenntnis. Der Neue Sokratische Dialog zeigt: Erst im Aushalten des Noch-nicht-Klaren entsteht echtes Verstehen.

Was bedeutet Unklarheit im Dialog?

Wir Menschen sehnen uns nach Klarheit. Nach Antworten, die eindeutig sind, nach Lösungen, die funktionieren. Wir suchen die Sicherheit, in einer unsicheren Welt.

Doch jeder, der schon einmal tiefer nachgedacht oder intensiv mit anderen gesprochen hat, weiß: So einfach ist es nicht. Wirkliche Erkenntnis entsteht selten aus Eindeutigkeit • sie wächst dort, wo wir bereit sind, Unschärfe auszuhalten. Dort, wo wir das eigene Wissen suspendieren und uns dem Unbekannten, dem Unsicheren öffnen.

Warum Widersprüche wertvoll sind

Wenn wir ein Thema gemeinsam betrachten, tauchen oft Widersprüche auf. Unterschiedliche Erfahrungen, gegensätzliche Meinungen, scheinbar unvereinbare Sichtweisen. Schnell entsteht der Wunsch, diese Unterschiede zu glätten oder „richtigzustellen“. Doch genau in diesem Moment verbauen wir uns den Zugang zu dem, was wirklich interessant ist: dem Zwischenraum.

Im Neuen Sokratischen Dialog geht es darum, sich im Zwischenraum, zwischen richtig und falsch, zu begegnen. Es ist die Phase, in der nichts festgelegt ist, in der keiner Recht haben muss. In der Gedanken tastend ausgesprochen werden. In der nicht definiert werden kann, was ist Missverständnis oder Irrtum. Alles was gedacht, gespürt und gefühlt wird, ist Teil des Dialogs und fördert seine Tiefe.

Wie wertvoll ist das „Noch-nicht-Klare“?

Was auf den ersten Blick ungenau wirkt, ist in Wahrheit eine Ressource. Denn Unklarheit …

  1. hält den Dialog lebendig
  2. ermöglicht unterschiedliche Perspektiven nebeneinander
  3. öffnet Türen zu überraschenden Einsichten

Statt vorschnell Antworten zu suchen, lernen wir, im Zwischenraum zu bleiben. Dort, wo die Spannung noch nicht aufgelöst ist, entsteht die größte Chance für Erkenntnis.

Fragen als Schlüssel zur Erkenntnis

Die Kunst wirklicher Fragen

In diesem Zwischenraum sind Fragen der Schlüssel zur Erkenntnis. Sie öffnen die Türen nach Innen, zu sich selbst und die Türen zu anderen Menschen und deren Perspektiven. Sehen und gesehen werden, gehen in diesem Raum Hand in Hand.

Wirkliche Fragen haben keine Antwort im Rucksack, sondern wollen verstehen, wollen hinterfragen, um selbst neue Erkenntnisse zu erlangen. Wer hingegen nur fragt, um sich selbst zu bestätigen, befindet sich schnell im eigenen Denk-Gefängnis. Die Grenzen seiner Erkenntnis werden immer enger • die eigene Lebens-Blase immer größer.

Wie verschieben Dialoge Grenzen?

So geht es im Dialog auch um das Kennenlernen der eigenen Grenzen. Jeder Dialog zieht Grenzen: zwischen mir und dir, zwischen meinen Erfahrungen und deinen Deutungen, zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir erst noch zu entdecken haben. Wer diese Grenzen spürt, ohne sie sofort zu schließen, erfährt etwas Wesentliches: Verstehen beginnt nicht mit Gewissheit, sondern mit Offenheit.

Die Kraft des Zwischenraums

Im Alltag kann Klarheit hilfreich sein • im Dialog ist sie oft zu wenig. Der Neue Sokratische Dialog lädt dazu ein, die Kunst des Zwischenraums (Fritz B. Simon nennt es Wischiwaschi) zu üben: bewusst im Ungefähren zu bleiben, Widersprüche stehen zu lassen und die Kraft der Unklarheit zu nutzen. Denn erst dort, wo wir nicht sofort „wissen“, beginnt wirkliches Verstehen.

Die Kunst des Zwischenraums (Fritz B. Simon nennt es „klares Wischiwaschi“) zu üben:

  • bewusst im Ungefähren zu bleiben,
  • Widersprüche stehen zu lassen und
  • die Kraft der Unklarheit zu nutzen.

Denn erst dort, wo wir nicht sofort „wissen“, beginnt wirkliches Verstehen.

Reflexionsfrage

Merkst du, wenn dein Wunsch nach Klarheit stärker ist, als deine Fähigkeit im Dialog zu bleiben?

Kurzanleitung: Zwischenraum im Dialog üben

  1. Ankommen • Atme durch und nimm dir 30 Sekunden, bevor du sprichst.
  2. Fragen statt Antworten • Formuliere eine echte Frage ohne versteckte Lösungserwartung.
  3. Spannung halten • Widerstehe dem Impuls, Widersprüche sofort aufzulösen.
  4. Perspektiven spiegeln • Wiederhole in eigenen Worten, was du gehört hast, ohne zu bewerten.
  5. Erkenntnis sichern • Halte eine Einsicht als Satz oder Frage fest, die für alle stimmig ist.

FAQ • Fragen und Antworten

Was ist der Zwischenraum im Dialog?

Der Zwischenraum ist der Bereich zwischen richtig und falsch, in dem Dialogpartner sich wirklich begegnen. Er hält den Dialog offen und ermöglicht neue Einsichten.

Warum sind Widersprüche wichtig?

Widersprüche halten das Gespräch lebendig und fördern Perspektivenvielfalt, statt vorschnell Klarheit zu erzwingen. Sie sind in einer Welt voller Individuen natürlich und ein Zeichen gesunder Gesprächs- und Denkkultur.

Wie kann ich den Zwischenraum praktisch üben?

Indem du Fragen stellst, ohne sofort Antworten zu erwarten, und indem du die Unschärfe von Gedanken bewusst zulässt. Profi-Tipp: Entkoppele deinen Selbstwert von deinem Wissen!

Literatur & Quellen

  • Podcast „Erkenntnistheoretischer Führerschein“ • Fritz B. Simon & Andreas Kollar, Folge 1: Die Kunst des klaren Wischiwaschi
    👉 Zur Podcast mit kurzem Text und Literaturhinweisen
    👉 Zur Episode auf SoundCloud
  • Gregory Bateson (1972): Steps to an Ecology of Mind • Klassiker der Systemtheorie über Unterschiede, Wahrnehmung und Wirklichkeit.
  • George Spencer-Brown (1969): Laws of Form • zur Bedeutung von Unterscheidungen (Innen/Außen, Grenze).
  • Humberto Maturana & Francisco Varela (1987): Der Baum der Erkenntnis • biologische Grundlagen des Erkennens, Beobachten als aktiver Prozess.
  • Alfred Korzybski (1933): Science and Sanity • Ursprung der Formel „Die Landkarte ist nicht das Gebiet“.

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‣ In der Gruppe: Im Neuen Sokratischen Dialog geht es nicht um Meinung. Es geht um Wahrnehmung. Um Denken in Resonanz • ohne Eile, ohne Lösung, aber mit Tiefe.
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